Christoph Schlingensief



*1960 in Oberhausen, Germany
lives and works in Berlin, Germany


Seit Beuys hat kein anderer Künstler einen derart umfassenden und über das Feld der Kunst hinausgehenden Wirkungsradius entfaltet: Der 1960 in Oberhausen geborene Christoph Schlingensief braucht keine Beziehungsskandale oder Gala-Auftritte, um auf seine Kunst hinzuweisen. Sein Werk selbst sorgt für Aufmerksamkeit, es spricht für sich, es spricht von dem Menschen Schlingensief und es spricht vor allem von gesell-
schaftlicher Realität. Ohne sich in formalästhetischen Diskursen zu erschöpfen, greift Schlingensiefs Kunst analog zu den Beuys‘schen Definitionen des erweiterten Kunstbegriffs und der sozialen Plastik die gesellschaftlichen Verhältnisse direkt auf und an. Die Formung und Strukturierung der Gesellschaft stehen im Fokus seines Schaffens. Der Künstler agiert dabei als teilhabender Beobachter und Beobachtungs-
objekt zugleich. Unter der Prämisse dieses Kunstbegriffes ist das künstlerische Werk nicht auf materiell greifbare Artefakte zu reduzieren, denn jedwedes kreatives Handeln, das auf die Gesellschaft einwirkt, wird so zur künstlerischen Praxis. In der Gegenwartsgesellschaft gehört dazu auch das Einbeziehen der Medien. Diese weitreichende künstlerische Praxis ist wiederum den von Schlingensief geschaffenen Artefakten eingeschrieben: Seine Filme, Installationen und Objekte weisen weit über den unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand hinaus.

Schlingensiefs künstlerische Entwicklung hat frühe biografische Wurzeln. In seiner Heimatstadt Oberhausen besucht er als Kind mit seinen Eltern regelmäßig das Oberhausener Filmfest. 1962 forderte eine Gruppe junger Filmregisseure im „Oberhausener Manifest“ die Befreiung von der Bevormundung durch kommerzielle Partner und Interessensgruppen. Die von ihnen heraufbeschworene „neue Sprache“ jenseits der überkommenen Vorstellung von Film als Traumfabrik formuliert sich ab Mitte der 1960er Jahre im „Neuen Deutschen Film“. Inspiriert von der Nouvelle Vague und dem New American Cinema verstehen sich diese Regisseure als Autorenfilmer. In jeweils eigener Sprache wenden sie sich entschlossen der Gegenwart zu, indem sie soziale Verhältnisse kritisch beschreiben und sich menschlichen Verhaltensweisen und aktuellen politischen Problemen nähern. Das filmhistorische Umfeld und seine revolutionären neuen Botschaften beeindrucken Schlingensief und beeinflussen sein Schaffen bis heute: Bereits als Achtjähriger stellt er mit dem FAHNENSCHWENKER FILM seinen ersten Super-8-Film her. Von da an produziert Schlingensief kontinuierlich jedes Jahr etwa einen Film. Anfang der 1980er wird er Assistent vom deutschen Avantgarde-Filmer und Aktivisten Werner Nekes. Spätestens ab TUNGUSKA - DIE KISTEN SIND DA (1983/84) feiern Schlingensiefs eigene Filme Erfolge bei Kritikern, die Deutschlandtrilogie 100 JAHRE ADOLF HITLER (DIE LETZTEN JAHRE IM FÜHRERBUNKER), DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER und TERROR 2000 - INTENSIVSTATION DEUTSCHLAND (1989-92) macht den Filmemacher schließlich auch beim breiteren Publikum bekannt. Von Anfang an sind Schlingensiefs Filme eher Reaktionen auf Anlässe und Zufälle als narrative und damit affirmative Gebilde. Sie greifen das Zeitgeschehen auf und dokumentieren zugleich den Prozess ihrer Entstehung. Darüber hinaus irritieren die Spontaneität und Anarchie ihrer Produktion sowie laienhaftes Spiel und eine stets aggressive Note den Betrachter und verhindern dessen betäubende Berieselung.

Ab 1993 weitet Christoph Schlingensief – stets unter Einbeziehung filmischer Elemente – sein Schaffen auf die Bereiche Theater, Fernsehen, Oper sowie Kunst aus. Er debütiert 1993 mit 100 JAHRE CDU - SPIEL OHNE GRENZEN als Theaterregisseur und -autor an der Berliner Volksbühne und reagiert damit direkt auf die bundes-
republikanische Gegenwart. Es folgen bis heute zahlreiche Theaterproduktionen, aber auch von der Bühne unabhängige Aktionen, die umgekehrt den Aktionscharakter des Bühnengeschehens unterstreichen. Schlingensiefs Theaterabende sind Happenings, die innerhalb eines vorgegebenen Rahmens, aber zumeist anarchistisch und ohne absehbares Ende verlaufen. Stets sind seine Themen gesellschaftspolitisch aktuell: Rechtsextremismus, Naziaussteigerprogramm, das Format des Millionengewinnspiels, der Irakkrieg, aber auch der Autismus von Kunst und Theater. Er integriert Laien-
schauspieler, Behinderte und das Publikum. Damit öffnet er die Handlung für das Unvorhergesehene und das Tagesgeschehen für die reale Umwelt. Gleichermaßen macht er so auch hier den Produktionsablauf transparent und zeigt die Inszeniertheit des Lebens sowie den Hunger des Theaters nach Leben. Das formale Grundraster der Aktionen entspricht häufig dem Zelebrieren einer Messe: Diese Inszenierung religiöser sowie sozialer Rituale und Erzählungen ist jeder Kultur bis in die Gegenwart vertraut. Die collagierte, mehrschichtige Darstellung, das Nicht-Narrative in Schlingensiefs künstlerischen Verfahren lässt allerdings kein sich Verlieren in Fabeln und Utopien zu. Der Betrachter wird stets auf Trab und in dauerhafter Auseinandersetzung mit dem Geschehen gehalten. Trotz aller religiösen wie utopischen Zitate wird Schlingensiefs Aktionskunst nie pathetisch: Ein verwesender Hase im Zeitraffer verweist sehr wohl auf Tod, Wiedergeburt und Ewigkeit, ist jedoch viel zu diesseitig, um Pathos zuzulassen.

Zugleich werden seine Bühnenbilder immer stärker zu einem eigenen Medium; mit dem ATTA ATTA-Zyklus beginnen sie sich als Bildproduktionsmaschinen zu einem neben dem Bühnengeschehen gleichwertigen Element der künstlerischen Aktionen zu emanzipieren. Als erste, von den Bühneninstallationen separate Artefakte entstehen Tableaux, die Schlingensief auf der Bühne in einer Malperformance bemalt. Dabei werden Assoziationen zu Yves Kleins und Jackson Pollocks malerischen Performances, aber auch zu Bruce Naumans performativen Untersuchungen der künstlerischen Prämissen geweckt, während sich die theoretische Auseinander-
setzung, verdeutlicht durch auf der Bühne vorgelesene Zitate, von Nietzsches Artistenmetaphysik über Wagners Gesamtkunstwerk bis zu Luhmanns Systemtheorie, erstreckt. Die seither von Schlingensief eingesetzte Drehbühne reagiert zum einen auf die generell und bei Schlingensief im Speziellen anschwellende Masse der Bilder und kann zum anderen als Referenz an die sich im Projektor drehende Filmspule gelesen werden – potenziert durch die Unzahl bewegter Bilder auf der Bühne. Stets leuchtet in ihr ebenfalls die Assoziation zur Beuys‘sche Honigpumpe und zum Blutkreislauf der Gesellschaft auf. Auch bei seinem wohl prominentestes Bühnenspektakel, der Inszenierung von Wagners Parsifal bei den Bayreuther Festspielen (2004-2007), setzt Schlingensief die Drehbühne ein: Mit diesem zunächst kritisch besprochenen und schließlich frenetisch gefeierten Opernprojekt wird endgültig klar, dass Schlingensief ein Gesamtkunstwerk schafft. Die Drehbühne wird mit KAPROW CITY, Schlingensiefs Hommage an den Aktionskünstler, zu einer begehbaren Skulptur, in deren unfassbar vielen Bildern sich der Zuschauer auch selbst widerspiegelt – eingefangen von Videokameras, die das Bildgeschehen abermals ins Unendliche potenzieren. Die Drehbühne wandert als beweglicher und werkintegrierter Sockel zahlreicher Installationen in Museen und Ausstellungen: Als ANIMATOGRAPH spielt Schlingensief verschiedene Formate und Ausprägungen dieses Werktypus durch und zeigt die Arbeiten u.a. in Neuhardenberg (2005), dem Reykjavik Arts Festival (2005), im Leipziger Museum der Künste (2006).

Doch der geschlossene Theatersaal wurde Schlingensief bereits früher zu eng: PASSION IMPOSSIBLE – 7 TAGE NOTRUF FÜR DEUTSCHLAND findet 1997 nicht im Hamburger Schauspielhaus statt, sondern verteilt sich als Happening über mehrere Tage auf einen Keller und die Straßen der Hamburger Innenstadt: Schlingensief integriert Obdachlose, Junkies und Prostituierte aus dem umliegenden Bahnhofsviertel in seine Aktion. Die Medien berichten und zeigen sich verwirrt. Schlingensief erprobt selbst zwischen 1997 und 2002 die Medienarbeit und geht mit verschiedenen medienkritischen Talkshow-Formaten auf Sendung (TALK 2000, U 3000, FREAKSTARS 3000). 1997 ist auch das Jahr, in dem Schlingensief mit MEIN FILZ, MEIN FETT, MEIN HASE an der Documenta teilnimmt und wegen des Plakats mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ zeitweise von der Polizei festgenommen wird. Die polizeiliche Maßnahme wird auf Video festgehalten und ist als Videofilm fortan fester Bestandteil der Aktion. Soziale Strukturen werden durch Denken und Sprache in einem kontinuierlichen kreativen Prozess geformt. Beuys zu Folge ist es die Aufgabe der Kunst, diesen Prozess in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und damit auch zu zeigen, dass jeder Einzelne durch sein Sprechen und Denken gesellschaftsverändernd aktiv werden (oder dem Bestehenden zustimmen) kann.

Ebenso wie bei Beuys folgt nach Schlingensiefs Documenta-Teilnahme der Eintritt in die aktive Politik: 1998 gründet Schlingensief die Partei CHANCE 2000 und kommentiert mit den Aktionen wie WAHLKAMPFZIRKUS ’98, WAHLKAMPF IN DEUTSCHLAND, BADEN IM WOLFGANGSEE und WAHLDEBAKEL (alle 1998) die hohle Wahlkampfrhetorik der Deutschen Volksparteien. Er wird daraufhin auf die 1. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst eingeladen, wo er die CHANCE 2000 INSTALLATION zeigt. 2000 geht er mit der Aktion AUSLÄNDER RAUS in das Wiener Stadtzentrum: In Containern lebende Asylbewerber werden rund um die Uhr gefilmt und mit rassistischen Ansprachen des FPÖ-Politikers Jörg Haider beschallt. Täglich kann per Zuschauerabstimmung ein Ausländer abgeschoben werden. Mehr denn je kommt es zu hitzigen politischen Debatten, offenen Anfeindungen (“Du Künstler, Du!” ist noch die harmloseste Beschimpfung), lautstarken Demonstrationen und Attacken durch linke wie rechte Gruppierungen, aber auch einen versuchten Brandanschlag und die Erstürmung der Asylantencontainer. Ein Volk ist in Aufruhr und zur Reflexion gebracht.

2003 gründet Schlingensief die CHURCH OF FEAR: Mit diversen Aktionen wird das Recht des Einzelnen auf seine Angst und der Schutz der individuellen Ängste vor dem demagogischen Zugriff durch Politiker und sonstige Ideologen proklamiert. Hans-Ulrich Obrist lädt 2003 die CHURCH OF FEAR zu seiner Utopia-Station auf der Biennale für zeitgenössische Kunst in Venedig ein. Die Installation mit einem kleinen Gotteshaus wird im Arsenale errichtet, während vor den Giardini sieben Pfahlsitzer ihre Angst öffentlich zur Schau stellen. Die Rezipienten dürfen wetten, welcher Säulenheilige am längsten durchhält. Es folgen weitere Utopia Stationen der Installation (Städtische Galerie Sindelfingen, 2003; Haus der Kunst, München 2004) und zahlreiche Gruppen-
ausstellungsbeteiligungen mit weiteren Installationen (u.a. TENT Rotterdam, 2004; Reykjavik Arts Festival, 2005; Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Wien, 2005; MUMOK, Wien, 2006; Museum der Moderne, Salzburg, 2006; De Appel, Amsterdam, 2008; Centre Pompidou, Paris; Haus der Kunst, München 2008) und ab 2005 Einzelausstellungen (Museum Ludwig, Köln, 2005; Museum der Bildenden Künste, Leipzig, 2006; Museum der Moderne, Salzburg, 2006; Haus der Kunst, München, 2007; Migros Museum, Zürich, 2008; Kunstraum Innsbruck; Neue Galerie Graz, 2008). 2006 wird Christoph Schlingensief als Professor an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig berufen, und mittlerweile werden auch seine Theaterproduktionen rückblickend durchweg als Kunstaktionen erkannt. Seine jüngste Installation DER KÖNIG WOHNT IN MIR bringt nicht nur ein sehr persönliches, sondern auch ein gesellschaftlich höchst relevantes und zugleich tabuisiertes Thema mit der formalen Offenlegung des künstlerischen Produktionsprozesses zusammen: Die Konfrontation mit der eigenen, körperlichen Endlichkeit.

In allen Aktionen nutzt Schlingensief neben sprachlichen Konstrukten vor allem das nicht-sprachliche Potential der Bilder und Bilderzeugungsprozesse, um die Irrationalität der Geschichte, aber auch die Getriebenheit ihrer Akteure so zu präsentieren, dass der Betrachter emotional und intellektuell aufgescheucht wird. Schlingensiefs Produktionen, Installationen und Objekte sind Collagen, deren Versatzstücke die gesellschaftliche Wirklichkeit, persönliche Erfahrungen und den konkreten, künstlerischen Produktionsprozess mit all seinen Störungen und Zufälligkeiten verweben.

Text: Anna-Catharina Gebbers

Christoph Schlingensief (c) Peter Hönnemann
Photo: © Aino Laberenz
© Deutschmark Gallery
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